Der Schatten des Löwen

Die folgende Geschichte handelt von einem Zauberer, der sich in seinem Leben mehr verwandelt hat, als alle anderen der vier Gründer.

Godric Gryffindor

Erlebt, wie er sich von einem einfachen Bauernjungen in einen alten weisen Zauberer verwandelt.

Widmung:
Dem HPFFA
 und meinem Vater


  


  1. Der Spielmann

Eine junge Frau lief durch den Wald und sammelte Kräuter. Es schien ein Tag wie jeder andere zu sein, den sie hier in ihrer grünen Heimat verbrachte. Sie sang ein altes Lied namens "The Foggy Dew" und während sie so weiter sang, schien es, als ob die Vögel in ihren Gesang miteinstimmten.
Sie lebte sehr abgeschieden. Die Leute kamen selten zu ihr in den Wald, weil alle dachten, sie sei eine Hexe und mit dem Teufel im Bunde - aber sie führte nie etwas Böses im Schilde.
Und nein, sie war keine Hexe.
Sie war einfach das, was man heutzutage als einfaches Kräuterweiblein bezeichnen würde.
Es war ihr Glück, dass sie nicht ein halbes Jahrtausend später geboren wurde.
Ihr Name war Nainmuriel - Freunde nannten sie nur Nain.
Jedoch hatte sie seit Jahren keinen ihrer Freunde mehr gesehen: Einige starben an sonderbaren Krankheiten, andere wiederum waren damit beschäftigt das Familienerbe, sei es Schmied oder Bauer, Weber oder Kerzenzieher fortzuführen und hatten keine Zeit mehr für sie.
Nain seufzte bei den Gedanken an ihre Freunde, für die das Geld wichtig war, um zu überleben aber für Nain waren nur Pflanzen und die Nahrung des Waldes nötig.
Eigentlich war Nain sogar längst in einem heiratsfähigen Alter, doch war sie weder mit einem Mann zusammen gewesen, noch hatte sie jemals auch nur ans Heiraten gedacht. Auch ihre Eltern waren früh gestorben und konnten ihr so nicht mehr mitteilen, wann es an der Zeit für so etwas war.
Es war ja nicht so, dass sie nicht hübsch war, zumindest glaubte sie es nicht.
Es gab nur bisher niemanden, der ihr sagen konnte, ob sie nun wirklich hübsch oder hässlich aussah.
Sie wusste nur, dass ihre Haare ebenholzfarben waren und lang. Sie schnitt sie nicht.
Ihre Augen waren blau, zumindest dachte sie es.
Damit Nains Gedanken sie nicht verrückt machten, rief sie sich immer wieder die Lieder ihrer Mutter in Erinnerung, wie jenes, welches sie nun bei der Kräutersuche sang.

Ihr Singen, Tage und Nächte lang blieb nicht unbemerkt. Kein Text von dieser wundervollen Stimme verhallte im Nichts, sondern fand immer einen Zuhörer - vor allem einen:
Ihr Lied drang bis tief unter die Erde, an einen Ort, an dem man nur seine schlimmsten Feinde hinwünschen würde.
Ihr Zuhörer lehnte seinen Kopf an die felsige Wand seines unterirdischen Reiches und lächelte auf eine Art, die man nur ganz selten bei ihm war.
So schön..., dachte er. So unschuldig. Wann hatte er eine solche Stimme das letzte Mal gehört?
Er war schon viel zu lange nicht mehr da oben gewesen. Wie sie wohl aussah, diese unschuldige Stimme?
Am liebsten würde er sofort nach oben gehen, doch es war ihm nur in der Nacht gestattet, wenn die wärmende Sonne nicht schien - seine Sonne. Daher war es ihm eigentlich viel zu kalt, um nach oben zu gehen.
Andererseits war es Sommer. Er musste es einfach wagen!
Er musste ihr ins Gesicht sehen können und sagen, dass er bereit für sie war! Er musste ihr sagen, wie lange er sie schon begehrte...

Der abnehmende Mond stand am Himmel und Nain wollte noch ein bisschen Wasser aus dem nahe gelegenen Bach holen. Das Wasser musste frisch aus dem Quell sein, wenn es rein sein sollte, hatte ihre Mutter damals gesagt.
So war es schon ein längerer Gang und wieder sang sie, um sich Mut zu machen und nicht vor jedem merkwürdigem Schatten, den das Mondlicht verursachte, zurückzuzucken.
Doch als sie schon nahe am frischem, kühlem Quell war, hörte sie plötzlich einen anderen Gesang. Es war dasselbe Lied, welches sie auch bei der Kräutersuche gesungen hatte.
Sie lauschte ihm, doch der Gesang war verstummt.
Stattdessen hörte sie merkwürdige Klänge und erkannte, dass jemand an einer Violine zu zupfen begann. Auch das Zupfen hörte bald auf und wich der Melodie von "The Foggy Dew".
Als würde jemand versuchen, mit ihr durch die Musik zu sprechen!
Nain hielt inne und spührte ein Gefühl ungebändigter Freude in sich aufkeimen und ihr kamen fast die Tränen.
Sie musste wissen, wer da spielte! Und so ließ sie den Wassereimer einfach fallen und rannte der Musik nach.
Sie war nicht allein, erkannte ihr Herz.
In der Ferne sah sie ein Lagerfeuer brennen und sie wurde langsamer in ihren Schritten.
Sie zögerte, dann versuchte sie zaghaft den Ton zu treffen und mitzusingen. Die Violine hörte nicht auf, sondern ermunterte sie nur noch mehr.
Nain betrat den Lagerplatz auf einer Waldlichtung. Es war nichts außer dem Feuer und einem Mann zu sehen, der sich an einen Baumstamm lehnte und spielte. Er schien einen sehr warmen und teuren roten Wams zu tragen. Seine Handschuhe lagen auf einem Findling nahe der Flammen.
Als das Lied endete, öffnete er die Augen und er suchte ihren Blick.
Sie sah, dass er rotes Haar hatte und käferschwarze Augen. Und er war sehr hübsch!
Zaghaft zeigte sie ein Lächeln und er erwiederte es amüsiert zurück, während sein Kinn immernoch auf dem Instrument lag.
"Kräuterweib Nainmuriel... nehme ich an?", fragte er.
Ein bisschen mulmig wurde ihr schon, als er ihren Namen nannte. Woher kannte er ihn?
"Ja..." sie nickte sachte. "Und was ist euer Name?"
Er löste sich langsam vom Stein und der Violine. "Gib mir einen."
Sie stutzte. "Wie?"
"Nenn mich, wie du willst.", gab er zur Antwort.
Sie lächelte skeptisch. "Was ist das für ein Spiel?"
"Das ist gar keines."
"Willst du mir deinen Namen denn etwa nicht verraten?"
Ein leises Lachen kam von ihrem Gegenüber.
"Ich denke, mein Name ist so unmöglich und furchtbar, du würdest davonlaufen" sagte er.
Sie dachte, er scherze und grinste.
"Gut, wie du willst! Dann... dann nenn´ ich dich..." Sie überlegte, dann blickte sie auf seine Violine. Diese tröstliche Melodie, das Gefühl ihn schon seit Anbeginn der Zeiten zu kennen.
"Spielmann." sagte sie und er horchte aufmerksam auf. "Ich nenne dich Nahumorgan, den Spielmann."
Er hob die Braue und grinste. "Nahum ist hebräisch."
"Ja. Stört es dich?"
"Nein, nicht wirklich."
Welch Ironie, fügte er in Gedanken hinzu.
Sie lächelte und er wandte ihr wieder seine ganze Aufmerksamkeit zu.
"Also, Kräuterweiblein Nainmuriel."
"Ja, Spielmann Nahumorgan?"
Sie grinsten.
"Wollen wir ein wenig zusammen musizieren?", fragte er.
"Mit Freuden", antwortete sie und machte einen gespielten Knicks.
Bald darauf war der Wald erfüllt von den flinken Klängen einer Violine und des Gesangs von Nain. Es waren schöne Lieder, die sie spielten und sangen: traurige, wilde, freudige und ruhige.
Irgendwann wurde Nainmuriel jedoch müde und lehnte sich zaghaft an seine Schulter.
Er legte sein Instrument in einen dafür geschaffenen Kasten und sie setzten sich auf den Boden vor das Lagerfeuer.
"Wer bist du, Spielmann?" fragte sie, schon halb in den Schlaf versunken.
"Jeder, der du willst, dass ich es bin", antwortete er. Er sagte dies, weil er ihr in diesem Moment die Welt zu Füßen legen hätte können.
"Aber du musst doch irgendwo zu Hause sein."
Er schwieg.
"Ist es...", sie zögerte. "Ist es, weil die Antwort tatsächlich so schrecklich ist?"
Er blickte in ihre Augen.
"Bitte hör auf, diese Fragen zu stellen. Eines Tages vielleicht wirst du es erfahren und du wirst mich hassen dafür, aber heute Nacht will ich nur eines für dich sein:
Nahumorgan, der Spielmann."


   2. Die Spiegel der Braut

Wir befinden uns im Jahre 9XX n. Chr.:

Auf dem Gutshof Catmole*, irgendwo in den grünen Ländereien des damaligen Englands feierte man die Hochzeit von Lady Georgina und Lord Dagomar, in einem buntem Fest, welches spät in den Abend hineinreichte..
Man hatte beschlossen, an diesem Tag der Freude sämtliche Standesunterschiede fallen zu lassen und sämtliche Leibeigenen an den Tischen im Hof Platz nehmen zu lassen.
Lord Dagomar war ein guter Lehnsherr, gerecht und ruhig und war daher für außenstehende ein sehr sonderbarer Mensch seiner Zeit. Denn damals waren Heldentaten im Kampf und Krieg hoch angesehen und nicht etwa gerechte und warmherzige Tugenden.
Unter den Hochzeitsgästen in Catmole war auch die Bauernfamilie Gryffindor, mit ihren beiden Söhnen Glorius und Godric, in ihrer blauen Festtagskleidung. Bauern durften damals keine prächtigen Farben tragen, nur Naturfarben, schwarz (zur Kirche und Beerdigung) und Blau (ebenfalls Sonntagskleidung und natürlich für spezielle Anlässe).
Der Vater, Glenn Gryffindor und Glorius, der Ältere von den beiden Söhnen, waren einander wie aus dem Gesicht geschnitten, mit ihren dunklen Haaren und den wettergegerbten Gesichtern. Die Mutter, Dolly Gryffindor war sehr üppig von ihrer Statur her und blond. Aber ihr jüngster Sohn sah ihnen alles andere als ähnlich.
Godrics grünblaue Augen strahlten, als er den Schimmel von Lord Dagomar sah, dessen Knechte ihn ein paar Meter entfernt von der Festgemeinde in die Ställe brachten.
Als wäre es ein Einhorn, war dieses Pferd ein Teil von Godrics Träumen, die er in sehr Geheimen hegte.
Lord Dagomar war ein Vorbild für diesen Jungen. Immerhin hatte er damals tatsächlich um seine Braut Lady Georgina kämpfen müssen, weil sie von einem Raubritter entführt worden war. Sein Vater Glenn hatte es ihm erzählt, denn wenn es etwas gab, was dieser noch gut konnte, außer Ernten, Sähen und Jähten, dann war es das Erzählen von großartigen Rittern und Helden.
Glorius, sein älterer Bruder, glaubte nicht an diese Geschichten und schon gar nicht an die Geschichte, dass Lord Dagomar für seine Braut kämpfen musste. Was Glorius nicht sah, glaubte er nicht. Natürlich gab es mal eine Zeit, in der Glorius seinem Vater noch zuhörte, aber spätestens, als dieser mal an dem Punkt angekommen war, dass der Raubritter, der Lady Georgina entführt hatte, ein Dämon gewesen sein soll, hegte er Abneigung.
Godric war traurig deswegen. Zusammen zuzuhören war für ihn immer viel schöner gewesen. Sein Bruder wollte ihm nicht einmal zuhören, als er ihn das letzte mal fragte, ob er sich nicht dazusetzen wollte. Glorius schien der Meinung zu sein, als Alleinerbe des Bauernhofes der Gryffindors, brauchte er nicht an die Heldensage seines Lehnsherrn zu glauben. Tagtäglich würde er wie sein Vater dessen Felder bestellen. Das war für ihn sein Leben.
Und was sollte Godric anstellen? Als Zweitgeborener?
Das Brautpaar saß am Kopf der Festtafel und die Bauernfamilie Gryffindor nur ein paar Plätze entfernt. Lord Dagomar entging der Blick von Godric nicht, der immernoch verträumt dem strahlendweißem Schimmel hinterhersah.
Es war schon spät, das zehnte Fass Wein war schon längst angezapft gewesen und als niemand großartig auf ihn achtete, schlich Godric sich davon.
Er schlich an den besoffenen Geistlichen vorbei und an den Stallknechten, die den hübschen Mägden des Gutshofes nachstarrten, bis er schließlich vor der Stalltür stand.
Ob er es wagen sollte?
Er lehnte eine Hand sachte gegen die Tür und sie gab sachte nach.
"Bist´ scharf auf den alten Gaul, was?!"
Godric zuckte zusammen, wandte sich jedoch gefasst um.
"Nein!", sagte er knapp.
Sein Bruder Glorius grinste, kam näher und warf so seinen langen Schatten auf Godrics Züge. Er zeichnete sich dunkel von den tanzenden Flammen des Festes ab.
"Hast´ ihm hinterhergegafft, als wärest du verknallt!"
"Und wenn schon!? Anschauen ist nicht verboten!", entgegnete Godric. "Außerdem wundert es mich, dass du überhaupt noch gerade stehen kannst! So viel Wein, wie du gesoffen hast!"
Ehe Godric sich versah, fand er sich an der harten Steinmauer des Gutshofes wieder.
"Ich warne dich ... kleiner Bruder..." Er betonte ‚kleiner Bruder' besonders. "...wenn ich erstmal die Felder bestelle, dann wirst du darum betteln müssen, dass du bei mir arbeiten darfst... schon vergessen? ICH bin der Alleinerbe! Der Erstgeborene! Also hast du gefälligst brav zu sein, wenn ich dich später bei uns bleiben lassen soll..."
Godric schwieg.
Glorius gemeines Grinsen war wieder da. "Du merkst, ich bin der Bessere von uns beiden... stärker, schneller... und überhaupt..."
Zuerst tat es weh, seinen eigenen Bruder so etwas sagen zu hören.
Langsam verging Glorius Gryffindor das Grinsen, als er in die Augen von seinem kleinen Bruder blickte. Kalte Wut lag darin. Als seien die grünblauen Augen zu Eisklötzen geworden. Aber gleichzeitig lag auch etwas anderes darin: Hoffnung.
"Mich interessiert der Hof gar nicht!", sagte Godric langsam und von einer unheimlichen Stärke, die man nie von ihm erwartet hatte "Und mich interessiert nicht, ob ich größer oder klüger oder stärker bin als du! Warum tust du dauernd so, als würde ich dir alles wegnehmen wollen?" Glorius schien tatsächlich innezuhalten und nachzudenken.
Godric seufzte und die vermeintliche Stärke schien verschwunden. "Glorius... wie lange geht das schon so?! Sag mir endlich, was du gegen mich hast. Vielleicht können wir uns ja einigen?"
Sein Bruder ließ ihn los, so dass er unsanft an der Mauer hinunterglitt.
"Hast du schon mal in einen Spiegel geschaut?"
"So etwas haben wir zu Hause nicht", wandte Godric ein und rieb sich seine Haut am Nacken, die durch den Kragen seines Hemdes gereizt geworden war.
"Dann wird es langsam Zeit."
Und mit diesen Worten ließ er seinen kleinen Bruder mit dessen Gedanken allein.
Einen Spiegel..., dachte Godric. Wo sollte er nur einen Spiegel herbekommen? So etwas besaßen nur Leute wie die Lady Georgina. Aber er konnte sie doch schlecht danach fragen.
Nicht nur, dass sie einen großen Spiegel in ihrem Schlafzimmer zum Haare kämmen besaß, zumindest hatte Godrics Mutter Dolly Gryffindor dies schwärmerisch erzählt, sondern da war auch das Zaumzeug des Pferdes, auf dessen Rücken Lord Dagomar seine Zukünftige befreit hatte. Es war mit Spiegeln ausgestattet gewesen, die den "Bösen Blick" einer Hexe oder eines Zauberers zurückwerfen konnten.
Ach, hör doch auf!, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Glorius ist dir schon immer feindselig gegenüber gewesen; seit deinem fünften Geburtstag geht das schon so! Du brauchst keinen Spiegel!
Nur langsam von diesem Gedanken abgewandt, sah Godric wieder auf die Stalltür...
Zaghaft legte er eine Hand darauf und hörte auf einmal wieder Schritte hinter sich. Godric zog die Hand weg und wandte sich genervt um.
"Ja, ja... ich gebs zu! Ich bin verknallt in das Pferd! Sonst noch irgendwelche Vorwürfe, Glor..."
Jemand viel Größeres stand vor ihm und sein Schatten war auch viel länger, als der von Glorius. Lord Dagomar wirkte verdutzt.
Godric schluckte...
"V-verzeihung, Herr... ich..."
Godric hielt verblüfft inne. Lächelte der Lord etwa?
"Ich wollte Euch nicht anschreien... Es war... nur so... ich..."
Das Lachen, was auf das Lächeln folgte, warf Godric nun völlig aus der Bahn.
"Du brauchst mir nichts zu erklären, junger Gryffindor. Ich habe euer Gespräch mitangehört..."
Langsam und erleichtert hörte Godric auf zu stottern.
"G-gut... trotzdem verzeiht bitte mein Temperament, Mylord." Er verneigte sich, wenn auch sehr umständlich.
"Genug! Genug... Das ist zu viel der Ehre..."
Lord Dagomar legte eine Hand auf seine Schulter.
"Du möchtest Justus also aus der Nähe betrachten?"
Fragend sah Godric auf.
"Justus ist der Name meines Pferdes."
Der Junge machte große Augen. "Ja... sehr gern, O Herr! Aber..."
"Dann tu ich dir doch einfach den Gefallen! Heute ist jeglicher Standesunterschied aufgehoben. Also lass dieses ‚O Herr', und folge mir, hm?"
Godric schluckte. Was passierte da gerade? Der Held seiner Tagträume lud ihn tatsächlich ein mit ihm das Pferd anzuschauen, mit dem er so viele Abenteuer durchritten hatte.
Das Pferd eines wahren, edlen Ritters.
Lord Dagomar trug eine Laterne bei sich und führte Godric bis zu den beiden hintersten Stallboxen. Auf der einen Seite war die goldbraune Stute der Braut.
"Das ist Belladonna.", erklärte Lord Dagomar.
Daneben, in einer anderen Box selbstverständlich, stand ein robuster, schwarzer Hengst. "Demetrius, ein Zuchttier, was unsere Knechte für die Felder direkt vor unserem Gutshof verwenden."
Und ihnen gegenüber stand er - Justus.
Ehrfürchtig trat Godric näher. Die Augen des Schimmels sahen ihm aufmerksam entgegen.
Vorsichtig streckte Godric die Hand aus und streichelte das Pferd.
"Wie lange habt Ihr das Pferd schon, Mylord?"
"Oh, viele Jahre. Wir sind sehr alte Freunde..." Lord Dagomar seufzte.
"Leider ist er aber auch nicht mehr der Jüngste."
Godric nickte und wandte den Blick wieder zu Belladonna.
"Stimmt es, dass das Zaumzeug von dem Pferd eurer Braut..." er sah vorsichtig zu seinem Lehnsherren auf. "... mit Spiegeln versehen war? Gegen den Bösen Blick?"
"Das hat dir bestimmt dein Vater erzählt." Lord Dagomar nickte und deutete auf einen Haken an der Wand.
"Da hängt es. Aber ich glaube nicht, dass das besonders interessant ist."
Godric hörte jedoch nicht mehr, was auch ein bisschen unvorsichtig von ihm war, aber er musste es riskieren.
Er tastete sachte nach dem Zaumzeug. Die aufblitzenden, silbernen Spiegel reflektierten die Flammen von Lord Dagomars Laterne.
Und Godric sah hinein.
Rotes, welliges Haar und eine lange Nase sah er. Grünblaue Augen blickten ihm entgegen.
Das war merkwürdig, dachte er. Sein Vater hatte viel dunkleres Haar, genau wie Glorius und seine Mutter war strohblond. Aber rotes Haar?
Godric blinzelte, als ihn das Licht der Laterne in der Reflektierung des Spiegels blendete.
"Danke, Mylord...", sagte er dann benommen. "Ich danke euch vielmals, aber ich... sollte jetzt zurück gehen."
Lord Dagomar lächelte weise, als habe er geahnt, was Godric gesehen hatte.
Das Fest war schon fast zu Ende, als er mit Godric zurück zu dessen Familie ging.
Glorius Kopf lag auf dem Tisch. Er schnarchte.
Glenn hatte eine rote Nase vom Wein, aber würde man ihm nicht ins Gesicht sehen, würde man ihn in seiner aufrechten Haltung für stocknüchtern halten.
Godrics Mutter hatte nicht mal einen ganzen Krug geschafft und belächelte mitleidig ihre beiden Männer. Sie wusste, einen Humpen mehr und Glenn Gryffindor würde irgendwelche lächelerlichen Ideen, in seinem besoffenem Kopf zusammenschnippseln.
"Glenn Gryffindor!", lächelte Lord Dagomar. "Ihr habt einen sehr schlauen Sohn! Auf ein Wort?", fragte er darauf und nickte zum Anwesen hin.
Glenn Gryffindor war verwundert über diese Aufforderung. Er unterdrückte einen Rülpser - Dolly Gryffindor lief rot an - und folgte Lord Dagomar.
Godric nahm den Platz neben seiner Mutter ein. Nachdenklich und als lüge ihm ein schwerer Stein auf dem Herzen, wandte er sich an sie:
"Mutter?"
Sie blickte ihn lächelnd an mit ihren blauen Augen.
"Sag mal... hast du mich jemals angelogen?"
Dolly Gryffindor runzelte die Stirn.
"Wieso fragst du mich so etwas?"
Godric beobachtete das Feuer, was zwischen der U-förmigen Festtafel brannte.
Er rieb sich nachdenklich die Stirn, denn er wusste nicht, wie er es sagen sollte.
"Wieso sehe ich, euch überhaupt nicht ähnlich?"
Seine Mutter schien die Frage unangenehm zu sein, denn sie schaute weg.
"Ach, das kann mal so, mal so sein! Vielleicht kommst du eher... nach Glenns altem Großvater oder Urgroßvater."
Godric schwieg und sie legte sanft einen Arm um ihren zehnjährigen Sohn.
"Mach dir keine Gedanken, Godric, mein Lieber. Nur weil du anders aussiehst, heißt das noch lange nicht, dass es was Schlechtes sein muss. Du bist eben etwas Besonderes."
Godric tat es Glorius gleich und legte den Kopf auf den Tisch. Er hörte das Violinenspiel der Gaukler.
Es war ihm irgendwie vertraut, als sie das Lied "The Foggy Dew" anstimmten. Nur niemand sang. Offensichtlich war die Dame, die zuvor gesungen hatte, längst von einem der Männer aufgelesen worden.
Etwas Besonderes, dachte Godric nachdenklich und glitt langsam in den Schlaf.
Etwas Besonderes, dachte Glorius, der gelauscht hatte. Pah! Dem werde ich es zeigen! Er wird sein blaues Wunder erleben!

*Der Name des Gutshofes Catmole ist aus der Artustriologie von Kevin Crossley Holland. Ich habe ihn übernommen, weil er ein kleines Wortspiel beinhaltet. Erkennt ihr es? ;-)
Zumindest finde ich den Namen ebenso auch für Godric Gryffindor passend, da das Wort Cat/Katze darin vorkommt. Und ein Löwe ist nichts anderes, als eine Riesenkatze.


  3. Godric's Chance 

Glenn Gryffindor und seine Familie waren am Tag darauf wieder auf dem Feld anzutreffen. Sie waren fleißig, arbeiteten hart und schwitzten in der Herbstsonne, als wäre es Hochsommer.
Es war eine gute Ernte dieses Jahr. Der helle Weizen roch herrlich und Godric hatte das Bedürfnis, seine Sichel fallen zu lassen und sich einfach in das üppige Korn zu schmeißen
"Träum nicht, Godric!"
Jemand stieß ihn hart in die Seite. Es war Glorius, der bereits die Sense schwingen durfte mit seinen sechzehn Jahren.
Godric brummte und arbeitete weiter. Zum Glück schien sein Bruder aber keine Mordgedanken zu hegen, denn er hätte genau so gut die Sense benutzen können. Andererseits, seine Eltern wären Zeugen gewesen.
Es wurde Mittag und die Sonne erreichte ihren höchsten Stand. Mutter Dolly brachte das Essen. Die drei Männer legten ihre Arbeit nieder und ließen sich am Knick des Feldes nieder. Mutter Dollys Brot schmeckte jeden Morgen besser für Godric und er biss kräftig hinein. Der kühle Wind, der ohne Wiederstand das Feld überwehte, brachte ihnen schließlich die letzte Erleichterung, die man als hart arbeitender Bauer so brauchte.
Glenn Gryffindor setzte sich neben Godric, sagte vorerst nichts und kaute ebenso auf seinem Brot herum. Godric dachte sich nichts dabei, denn er war viel zu sehr in Gedanken versunken.
"Lord Dagomar hat mich gestern gefragt, ob du nicht Lust hättest an seinen Gutshof zu kommen und Page zu werden", sagte sein Vater plötzlich.
Godric verschluckte sich heftigst und eifrig klopfte sein Vater ihm aufs Kreuz.
Pagen waren adelige Jungen, Söhne von Rittern oder Adligen, die an einen fremden Hof geschickt wurden, um dort zu lernen.
"Page?!", brachte er mit Mühe heraus und räusperte sich. "Ich? Aber ich bin kein..."
"Kein Adeliger, ich weiß... aber..."
Glenn brauchte eine Weile und Godric bemerkte erst jetzt, dass seine Mutter und Glorius sich etwas weiter abseits befanden.
Da ist doch was abgesprochen, dachte er skeptisch. Er wandte sich um und blickte in das sorgenvollste Gesicht, was sein Vater jeh gemacht hatte. Er hatte es vielleicht nur einmal in seinem Leben gesehen.
"Du bist... ein Findelkind, Godric", teilte ihm sein Vater schließlich mit.
Die Zeit schien bei Godric still zu stehen in jenem Moment. Als wäre seine Miene auf dem Gersicht gefroren, wandte er sich ab und beobachtete, wie der Rest Weizen auf dem Feld sich bog und wiegte.
Selbst zu Atmen vergaß er, bis er zurück in die goldbraunen Augen seines Vaters sah.
Es war also kein Scherz. Die Enttäuschung lief ihm den Rücken hinunter, wie die Hand von Glenn Gryffindor, die vorher auf seiner Schulter geruht hatte.
"Ich..."
Aber Godric wusste nicht mehr, was er sagen wollte.
"Ich weiß, wir hätten es dir längst sagen sollen. Aber wir wollten warten, bis Glorius sein Erbe antreten sollte. Letztendlich hast du dich gestern jedoch selbst im Spiegel gesehen..."
"Lord Dagomar hat euch davon erzählt?"
"Oh ja." Glenn Gryffindor lächelte.
"Hat er euch denn auch erzählt, warum er will, dass ich Page werde?", fragte Godric.
Sein Vater, Ziehvater besser gesagt, schüttelte den Kopf.
"Wir wissen beim besten Willen nicht, wer du bist, Godric. Aber warum sollten wir ausschließen, dass du der verlorene Sohn einer Adelsfamilie bist? Und Lord Dagomar mag dich... Er würde dich gerne unterrichten."
Nachdenklich blickte Godric über das Feld. Der Geruch vom Stroh, das kleine Bauernhaus, die Scheune, die Tiere, all das würde ihm fehlen.
"Das ist eine große Chance..." fügte sein Vater hinzu. "Eine sehr große Chance einen höheren Stand in der Welt einzunehmen."
Godric blickte zu seiner Mutter und Glorius. Selbst er würde ihm fehlen.
"Glorius wusste es auch... oder?"
Langsam und seufzend nickte sein Vater. "Er war neidisch, weil wir dich wie ein Wunder behandelt haben. Er... wie soll ich es sagen."
"Er hatte Angst vor mir" schloss Godric aus seinen Worten. "Er... denkt stark an die Zukunft."
Glenn nickte und sie schwiegen eine ganze Weile.
"Wie kam ich eigentlich zu euch?", fragte Godric dann.
"Hm... eine Frau hat dich vor unserer Tür abgelegt. Glorius hatte es durchs Fenster gesehen und hatte uns gerufen. Da war die Frau davongerannt."
"Das muss meine Mutter gewesen sein!" Godric sprang auf. "Es kann überhaupt nicht anders sein!"
"Ruhig, Junge... nun hör doch erst einmal zu."
Aber Godric wollte nicht ruhen. Er verspührte den unheimlichen Wunsch, seine wahre Familie kennen zu lernen. Innerhalb von 24 Stunden hatte man seine Identität vollkommen umgekrempelt.
Angefangen vom Blick in den Spiegel, bis hin zum Geständnis seines Vaters und zwischendrin das Herumgedruckse seiner Mutter und jetzt auch noch dieses Schicksal ...
Sein Schicksal als Bruder des Bauern, der unter dem Lord Dagomar arbeiten sollte, würde nicht eintreten. Vielleicht war er ja tatsächlich von einem höherem Stand?
Vielleicht erwartete ihn eine völlig andere Bestimmung?
"Wisst Ihr ihren Namen? Bitte, ich muss es wissen!"
Glenn Gryffindor schüttelte den Kopf.
"Wie denn, Godric? Sie war fremd auf diesen Ländereien. Damals war Lord Lewis noch der Lehnsherr über all das hier und er kannte jeden Stock und jeden Stein. Als wir ihm von ihr erzählten, da zuckte er nur mit den Schultern."
Enttäuscht ließ Godric sich wieder auf den Boden zurücksinken.
Und jetzt?, dachte er.
"Und wirst du dich für Lord Dagomars Angebot entscheiden?"
Godric schaute ihn an, schaute seine Ziehmutter und seinen Stiefbruder an. Konnte er wirklich von vorne beginnen?
Andererseits, Glorius hätte keine Gelegenheit mehr, ihn zu demütigen. Und prügeln wollte Godric sich auch nicht!
Er stand auf.
"Ich weiß nicht wer ich bin ...", sagte er langsam und ging zurück zum Feld, um früher mit seiner Arbeit fortzufahren.
Als wolle er damit beweisen, dass er nicht gerne geht, dachte sein Vater und er lächelte verständnisvoll, als er seinen Sohn, seinen Ziehsohn beobachtete.
Aber insgeheim wünscht er sich nichts sehnlicher, als einmal auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen und Abenteuer zu erleben.

Schweigend gingen die drei Männer der Gryffindorfamilie gegen Sonnenuntergang nach Hause, das Korn zum Teil in Säcken auf den Rücken geschnallt zum anderen aber auch von einem Esel auf einem kleinen Karren gezogen wurde.
Zuhause wartete Mutter Dolly schon mit dem Essen auf sie.
Glorius brach am Esstisch als erstes das Schweigen: "Der Esel lahmt. Lange macht er es nicht mehr."
Glenn antwortete nicht, sondern blickte zu seinem anderen Sohn herüber, der nachdenklich sein dünnes Süppchen in sich hineinschlurfte, so vorsichtig, als ob es ihm nicht mehr zustünde.
Als Glorius bemerkte, dass man ihm keine Beachtung schenkte, schwieg er zwar aber warf seinem kleinen Bruder einen bösen Blick zu. Vor allem dann, als dieser urplötzlich wie aus einer Trance erwachte, seinen Löffel gezielt ablegte und sagte:
"Ich werde morgen zu ihm gehen. Ich... geh dann mal meine Sachen packen."
Mutter Dolly lächelte und nickte ihm zu, als er aufstand und sich zu seinem Lager aus Stroh begab.
"Was ist denn mit dem los?", fragte Glorius. Niemand antwortete ihm.
Man sah ihm nicht mal hinterher als er selber endlich aufstand. Vor der Tür drehte er sich noch einmal hoffnungsvoll um, wurde aber bitter enttäuscht. Schließlich öffnete er und ging in die kühle, dunkle Nacht hinaus.

Es war kaum zu glauben: Vor wenigen Stunden noch hatte Godric in dieser ärmlichen Behausung seiner Zieheltern gewohnt und hatte in Windeseile sein Bündel geknüpft. Jetzt aber bekam er ein ordentliches Zimmer, mit einem zwar sehr kleinem, aber weichem Bett. Der Empfang der Knechtschaft auf Catmole war zwar nicht sehr herzlich gewesen - sie alle beäugten den jungen Bauernjungen misstrauisch, der nach Lord Dagomar fragte (nicht zuletzt wegen seines ärmlich aussehenden Bündels, das da in seiner Hand baumelte). Aber als der Herr des Guts von Godrics Ankunft erfuhr, waren jegliche Zweifel gewichen.
Auf eine geradezu väterliche Weise führte sein Herr ihn herum, zeigte ihm das kleinste Eckchen, welches Godric als Page betreten durfte.
"Du bist der erste Page, der auf Catmole anfängt. Die meisten gehen an andere Höfe, die meisten natürlich werden mit großer Hoffnung an den Hof von König Edgar geschickt. Du bist aber hier zu Hause."
Unangenehm bewusst wurden ihm diese Worte erst, als Godric in der Nacht in seinem Bett lag und nicht einschlafen konnte. Meinte der Lord es wirklich so?

Am nächsten Morgen wurde Godric noch etwas bewusst. Es war völlig unnütz gewesen, seine alte Arbeitskleidung mitzunehmen und etwas zum Essen. Er wurde bestens versorgt.
Godrics alte zerlumpte Arbeitskleidung wich einer blaugrünen Tunika aus Leinen, die von einem Gürtel festgehalten wurde. Sie passe zu seinen Augen, hatte Lady Georgina gesagt. Ihre Zofe hatte es genäht und bestickt. Und auch eine neue Hose und ordentliche Stiefel aus Ziegenleder konnte er sein Eigen nennen. 
Dennoch waren nun harte Zeiten für Godric angebrochen, als man ihm langsam die Tätigkeiten eines Pagen erläuterte, wie er sich zu benehmen hatte, was er zu wissen hatte.
Lord Dagomar hatte ihm wirklich fast jeden Ort auf Catmole gezeigt gehabt, so dass es nur wenige verschlossene Türen gab. 
Zu Godrics Leidwesen wurden auch seine Haare geschnitten. Im insgeheimen schwor er sich, sobald er erst mal selbst darüber bestimmen konnte, würde er dieses wiederliche Kitzeln im Nacken - wenn seine Haare zu Boden fielen - und diesen merkwürdigen Pagenschnitt, den man ihm verpasste, tunlichst zu vermeiden.
Als er sich im Spiegel betrachtete, den man ihm vorhielt, dachte er, er sähe aus, wie ein hochnäsiger, verwöhnter Prinz.
Godrics nächste Aufgabe bestand darin, zu lernen, wie er die Waffen seines Lords hegte und pflegte. Während er alleine diese großartigen, machtvollen Gegenstände polieren sollte, kam er nicht umhin, ein bisschen das Gewicht des Schwertes anzutesten - und er hätte es fast fallen gelassen!
Und dann war da noch das Lesen und Schreiben, dass er auch noch erlernen sollte.
Zwei Mönche wurden ihm zugeteilt. Den einen kannte Godric noch von der Hochzeit von Lord Dagomar und Lady Georgina. Sein Bauch war rund vom Wein gewesen und seine Nase schien jetzt noch rot zu sein. Sein Name war Titus. Der andere war wesentlich schlanker und älter und sah umso erfahrener aus. Dieser hieß Tobias.
Während Tobias ihm das Umgehen mit Feder und Pergament beibrachte, predigte Titus ihm die biblischen Geschichten rauf und runter, als sei es selbstverständlich, dass er all diese komplizierten Namen kannte.
Und all diese Arbeit, all dieses denken und aufschreiben, lesen und aufsagen, polieren und Kleidung dabei schmutzig machen, sollte fortan erst einmal fünf Jahre dauern, jedoch nicht ohne ein Abenteuer -
oder auch zwei.

Es war nun schon ein Jahr her, seit Godric auf dem Hofe Catmole arbeitete und lernte. Lady Georgina beobachtete den jungen Gryffindor gerne - falls man ihn überhaupt Gryffindor nennen durfte. Welchen Nachnamen er auch immer hatte, welchen Titel er auch immer erlangen sollte, sie hatte diesen Jungen ins Herz geschlossen, so wie es ihr Gatte getan hatte.
Lächelnd beobachtete sie abends von ihrem Fenster aus den vom nahenden Vollmond beschienenen Hof. Sie sah, wie Titus, der Mönch wütend auf Godric zukam, der die Hauskatze ein bisschen verwöhnt hatte, um sich wenigstens ein bisschen Ruhe zu gönnen.
"Du solltest doch die Namen der zwölf Söhne Jakobs auswendig lernen!" Und schon ließ Godric sich in sein Studienzimmer scheuchen.
Der arme Junge. Er muss so hart arbeiten. Er braucht eine Pause! Vielleicht sollte ich Dagomar bitten, dass er mich auf meinen nächsten Ausflug ins Grüne begleiten darf, um auf andere Gedanken zu kommen., dachte Lady Georgina.
Sie sah noch lange auf das erleuchtete Fenster, der kleinen Kappelle, in der Godric tagtäglich seine theoretischen Arbeiten vollrichtete und von den Mönchen beaufsichtigt wurde. Bis ihr ein Gähnen entglitt und sie sich an ihren Spiegel setzte. Mit einem kostbarem Kamm, ein altes Erbstück und Teil ihrer Mitgift bürstete sie sich das Haar. Sie summte noch gedankenverloren vor sich hin ...
Was war das?! Sie ließ den Kamm erschreckt zu Boden fallen.
Irgendwas hatte sich im Spiegelbild bewegt und sie wandte den Blick in ihr Zimmer.
Nichts - nicht mal ein Windzug, der den Wandbehang ihrer Familie hätte regen können.
Sie blickte wieder in den Spiegel und beugte sich neugierig etwas vor.
Plötzlich sagte ihr eigenes Spiegelbild: "Euer Spiegel ist verflucht, Mylady..."
Erschrocken wich sie zurück, doch die Hände ihres Ebenbildes glitten durch die kalte Wand hindurch und hielten sie fest.
Die zarten Hände verwandelten sich in knorrige Pranken einer Alten, mit unmenschlicher Gegenkraft, die einem das Mark gefrieren ließ und auf den Kopf eindrückte. Und dieser Druck, schreckliche Kopfschmerzen, ließen Lady Georgina ohnmächtig werden.
Die Alte kicherte.
"Das Kind in dir ist noch jung. Mein Mann wird sich freuen dich wieder zu sehen, um die Kraft des Lebens und der Jugend aus deinem Körper zu saugen. Er erwartet dich" flüsterte sie in das Ohr der Lady.
Und so schleifte sie sie durch die kalte Wand hindurch, die fortan nichts anderes mehr war, als ein normaler Spiegel.
Wer hätte gedacht, dass das, was Lady Georgina einst am meisten beschützt hatte, ihr Verhängnis werden könnte.

 


  4. Der Albino

Es war späte Nacht, als fackeltragende Suchende aus den Toren des Gutshofes Catmole strömten. Der gesamte Hof war auf der Suche nach Lady Georgina, die auf eine so unerklärliche Weise verschwunden war. Niemand hatte sie gesehen oder gehört. Zuletzt war sie von ihren Damen in ihr Zimmer begleitet worden und wurde dort allein gelassen. Man hatte erst vermutet, dass sie vielleicht aus dem Fenster gesprungen war, aber davon wollte Lord Dagomar nichts hören. Als man schließlich trotzdem unten auf dem Boden nachsah - ohne dem Wissen des Lords, war nichts zu sehen, was darauf hindeuten könnte, dass ihr lebloser Körper auf den Boden gelegen haben könnte.
Und so liefen Knechte und Mägde mit Fackeln durch die Wälder; Tobias und Titus nahmen den Heuwagen mit Demetrius, dem robustem Zuchtier, vorneweg und auch Godric war mit einer Fackel unterwegs. Lady Georgina, die ihm zwar streng die höflichen Sitten beibrachte aber ein sehr gutes Herz hatte, stand auch ihm sehr nahe.
Und er war es Lord Dagomar einfach schuldig. Dieser war ebenfalls mit seinem treuem Schimmel Justus unterwegs und ritt stürmisch seine Straßen und Felder entlang.
Catmole sah ziemlich verlassen aus. Nur diejenigen, die in der Küche arbeiteten, die Kinder, die Hofdamen, die Lady Georgina umsorgt hatten und ein alter Greis, der ein Großvater irgendeiner Magd war, blieben zurück.
Godric wandte den Blick noch kurz um. Catmole war jetzt nichts weiter, als eine kleine Ansammlung von Lichtern in der Dunkelheit. Und noch weiter weg erkannte er den Wald, in den der andere Suchtrupp gelaufen war. Hier wurde oft gejagt.
Aber aus irgendeinem Grund, es mochte sein Herz sein, welches ihm sagte, dass Lady Georgina unmöglich dort sein könnte, machte er - Godric Gryffindor - sich auf nach Norden.
Am Morgen kehrten die meisten Suchenden erschöpft zurück.
Nur Lord Dagomar und Godric suchten eisern weiter.
Godric dachte nicht ans Aufgeben in der nächsten Woche. Er hatte ein paar Dörfer durchquert, hatte nachgefragt und sich schlau gemacht, ob es nicht irgendein Anzeichen von einer Frau von adeliger Herkunft gegeben hatte, die entführt oder gar irgendwo festgehalten würde. Dabei hütete Godric sich, lange zu rasten, geschweigeden jetzt an seine Ausbildung zu denken. Er spürte tief innen drin, dass sie noch nicht in Sicherheit war, Lady Georgina.
Es konnte ein Irrtum sein, aber es war einfach zu merkwürdig gewesen, dass sie so urplötzlich sich im Nichts aufgelöst hatte.
In einem Dorf, in dessen Wirtshaus Godric sich am Feuer wärmte fiel ihm die Geschichte von Lord Dagomar und dem Raubritter ein, der Lady Georgina schon einmal geraubt hatte. Und dessen angebliche magische Kräfte ... Sollte es wahr sein?
Er fragte sich durch das Wirtshaus durch, wurde zum Teil ausgelacht weil er ‚noch ein halber Säugling sei' und solche Sachen, erwischte aber auch Leute, die verständnisvoll ihm Rede und Antwort standen - eben weil sie Lord Dagomar gut kannten. Er dankte jenen Leuten, die ihm halfen und ging fort. Die Leute brachten die Nachricht von dem Verschwinden der Lady Georgina unter die Leute und so verbreitete sich die Geschichte auch wie ein Lauffeuer fast im ganzen Land. Die Geschichte von Lord Dagomar, der seine Lady Georgina aus den Fängen des teuflischen Raubritter befreien musste, war seit vielen Jahren wieder groß im Gespräch.
Es waren ungefähr drei Tage später, als an einem kühlem Abend Godric eine recht kahl aussehende, sumpfige Gegend erreichte. Wie weit hatten ihn seine Beine nur getragen? Diese Gegend sah nicht sehr fruchtbar aus, so dass er hier im nächsten Dorf hätte rasten können.
Er fühlte den Boden, wie er es von seinem Ziehvater Glenn Gryffindor gelernt hatte.  Die Erde war matschig und ein paar Meter weiter wohl auch sumpfig. Ein paar Meter unter ihm wäre vielleicht guter Torf für ein Feuer, aber wachsen konnten hier nur moosige Wiesen und hier und da war ein alter Baum, der sich bedenklich zum Grund neigte. Und den Torf auszugraben und trocknen zu lassen dauerte auch viel zu lange, als dass sich ein Feuer daraus jetzt lohnen würde.
Godric hörte das Geräusch eines Käuzchens und wurde aus seinen Gedanken gerissen. Er blickte zum Himmel, sah, dass der Vollmond durch einen Schleier aus Wolken blickte. Während seiner Suche hatte er völlig vergessen, sich am Himmel zu orientieren, wie Tobias, der Mönch es ihm geraten hatte.
Er kratzte sich am Kopf. Sollte er versuchen, den Sumpf zu durchqueren?, dachte er und sah auf das matschige, im Mondlicht glänzende Gras.
In der Ferne sah er den Nebel, der längst aus dem Tau aufgestiegen war. Sein unheimliches Wabern  ließ Godrics bisherigen Weg unerkennbar machen, der sich zuvor mit Fußabdrücken hinter ihm abgezeichnet hatte.
Da war er nun und wusste nicht, wohin er gehen sollte. Ein toller Held war dieser Godric Gryffindor, rief er sich selbst in Gedanken. Nein - kein Held sondern ein nutzloser Bauer! Nein, nicht einmal ein Bauer war er, denn ein Bauer kannte sich aus mit Landschaften!
Godric rümpfte trotzig die Nase ... und dann, ganz weit hinten durch den Nebel erkannte er etwas.
Da drüben sah er doch Licht?
Das nächste Dorf!, dachte er erleichtert und beeilte sich einen sicheren Weg durch den Sumpf zu gehen. Er achtete kaum auf seine Füße, sackte sogar ein paar mal tiefer ein. Und als er sich befreit hatte, stellte er fest, dass er ein bisschen vom Weg abgekommen war. Unermüdlich kämpfte er sich weiter durch den Schlamm, blind für jegliches Hindernis, darauf epicht sein Ziel zu erreichen.
Doch egal, was er tat, er es nicht! Er erreichte kein Dorf mit dem warmen Feuer im Wirtshaus.
Das Waten durch den Morast wurde immer anstrengender, seine Stiefel waren bereits durchtränkt und die Sohle quietschten, als seine Füße sich darin bewegten.
Plötzlich sackte er ganz tief ein! So tief, dass ihm der Schlamm bis über die Hüfte ragte.
"Nein!", entfuhr es ihm und er blickte sich ärgerlich um. Die Lichter waren verschwunden.
Wie sollte er hier nur wieder rauskommen? Der Ärger wich etwas anderem, etwas, wofür er bisher nicht das Mindeste übrig gehabt hatte: Angst.
"Warte! Ich hab dich!"
Godric zuckte zusammen und auf einmal griff eine blasse Hand nach der seinen.
Er erblickte einen Jungen, einen silberblonden Jungen mit roten Augen, der sich an einem Ast von einem Baum festhielt.
Godric stutzte. Wo kamen der Junge und dieser Baum auf einmal her?
Der Junge, er konnte nicht viel älter, als er sein, trug so etwas wie eine blassgrüne Toga über einer schwarzen Tunika. Sein helles Haar war so lang, dass er es sich zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. 
Jedenfalls gelang es ihm, Godric aus dem sumpfigen Wasser herauszuziehen.
Er wusste, dass dieser Junge da vor ihm, ein Albino sein musste.
Tobias hatte ihm erzählt, dass sie eben einen solchen Mann mit einem ähnlichen Anlitz, mal in ihrem Kloster aufgenommen hatten, weil er stark gepeinigt und gequält wurde von seinen Mitmenschen. Letztendlich starb jener an inneren Blutungen.
Und warum? Einfach nur, weil er anders gewesen war ...
Dieser hier schien jedoch in einer sehr gesunden Verfassung zu sein.
"Danke.", sagte Godric und streckte ihm die, mit schwarzem Sumpfwasser besudelte, Hand hin.
Der Junge lächelte ein unschuldiges Lächeln nahm sie und schüttelte sie. Ihn schien das bisschen Schlamm nicht zu stören. Das Gesicht des Jungen war sehr schön, viel Godric auf, fast makellos, wenn man von seinem merkwürdigem Auftreten mal absah.
Dann jedoch blickte der Junge Godric genauer an. Und plötzlich begann er zu kichern.
Nun gut, es war nicht mal ein richtiges Kichern. Es klang eher nach einem...
"SzSzszzz! SzSzzSzzz!!!"
Einem Zischeln...
"Was ist denn so komisch?", fragte Godric.
"Szeeszzzzzszehehehe!!!" Das zischelnde Lachen wurde etwas unterdrückt und der Junge räusperte sich.
"Deine Haare! Einfach zu komisch!"
Godrics Miene verfinsterte sich und er rümpfte die Nase. Ich könnte dir auch was über dein Aussehen an den Hals spucken, du Spinner, dachte er, aber er sagte lediglich: "Ich bin Page und das ist ein Pagenschnitt! Das gehört so! ..."
Er wusste selber, dass er mit dem akkuraten, pilzähnlichem Haarschnitt ziemlich albern aussah. Das brauchte ihm kein dahergelaufenes Schlitzohr zu sagen. Aber eben jenes Schlitzohr rettete ihm soeben das Leben ... 
"Ich find ihn ja auch nicht toll...", fügte Godric schließlich hinzu.
Der Junge nickte, schien zu verstehen, doch dann prustete er wieder los und Godric wandte den Blick genervt ab. So viel zu dem Thema, vernünftig mit jemandem zu reden.
"Wie dem auch sei, nochmal danke für die Rettung. Ich muss weiter..."
Das Lachen verstummte.
"Ich hab´s doch nicht so gemeint! Bleib´doch!
Es kommt nicht oft vor, dass sich jemand hierher verirrt.", sagte der Junge.
Godric seufzte und wandte sich wieder um. "Schon verziehen. Aber hör mal, ich kann nicht bleiben. Ich muss jemanden suchen."
"So, tatsächlich?" Der Junge verschränkte die Arme. "Wen denn? Vielleicht kann ich ja helfen..."
"Das glaube ich nicht. Es sei denn, du kennst einen Raubritter oder Ähnliches."
"Hmmm..." Der Junge schnalzte mit der Zunge. "Ich denke mal, dass dieser sogenannte Raubritter, was auch immer das ist, ein Dieb ist. Und er hat irgendwas gestohlen... richtig?"
Godric glaubte, sich verhört zu haben. Dieser Junge wusste nicht, was ein Ritter ist?! Deswegen hatte er wahrscheinlich auch so über seinen Haarschnitt gelacht.
"Du weißt echt nicht was... naja, auch egal.", meinte Godric dann.
Er hatte wirklich keine Zeit für so etwas.
"Aber du kannst mir nichts über eine Lady namens Georgina sagen, die sich in Not befindet?"
Der naive Blick des Albinos veränderte sich.
"Lady Georgina... Diese Entführung, meinst du?"
"Ja! Genau die!", sagte Godric eifrig. "Weißt du etwas darüber? Los, raus damit!"
Der Junge schien wirklich ernsthaft zu überlegen und kam dann zu einem Schluss, der Godric buchstäblich von den Füßen fegte.
"Nein, ich weiß nichts darüber!"
Godric hätte sich am liebsten zurück ins Sumpfwasser fallen lassen.
Er seufzte resignierend und sagte: "Gut, dann geh ich mal weiter."
"Aber hier in der Nähe ist das Haus von so einer alten Vettel, die was mit einem Reiter hat. Vielleicht solltest du da mal, nach deiner Lady Georgina suchen."
Godric war ganz Ohr. "Reiter sagst du? Besitzt er so etwas wie eine Waffe?"
"Ja. Er hat diese Peitsche und ein Schwert bei sich."
Godric fiel ein Stein vom Herzen. In den Geschichten seines Vaters kam eine Peitsche, die des Raubritters vor, mit der er Lord Dagomar bei Nahe erwürgt hätte.
"Das muss er sein! Wo finde ich diese... diese..."
"Vettel?", fragte der Junge.
"Ja, genau!", antwortete Godric.
"Immer gen Westen.", sagte dieser und deutete in eine Richtung.
"Ich danke dir!", meinte Godric. Er wollte sofort losspurten und wäre bei Nahe wieder ins selbe Morast gefallen, wenn der Junge ihn nicht am Kragen gepackt hätte.
"Muggel!", murmelte dieser mürrisch. "Komm, ich zeig dir den Weg."
Er ließ Godric keine Zeit zu fragen, was denn überhaupt Muggel seien, denn er sagte: "Trete mir am Besten immer in die Fußstapfen. Dann kann nichts passieren."
Auf dem Weg aus dem Sumpf erkannte Godric, dass dieser Albino sich hier auskannte, wie in seiner Westentasche. Er hatte eine Art Trampelpfad, der ihn nach Westen führte.
Langsam, ganz langsam, führte der junge Albino ihn in ein grünes Wäldchen.
"Hier kannst du alleine weitergehen, denke ich" waren dann seine Worte, als sie unter einer großen Eiche standen.
"Danke.", sagte Godric wieder. Und diesmal meinte er es auch wirklich so.
Ein engelsgleiches Lächeln breitete sich, auf dem blassen Mund des Jungen, aus und es erstreckte sich auf seine roten Augen. "Gerngeschehen ..."
Als Godric schon ein paar Schritte entfernt war, rief er: "Wie heißt du eigentlich?!"
Die Stimme des Jungen war zuerst etwas zu leise, dann merkte er es und räusperte sich.
Dann sagte er, wesentlich kraftvoller: "Salazar Slytherin!"
Godric grinste. "Godric Gryffindor! Hat mich gefreut, dich kennenzulernen!"
Und Salazar grinste zurück und winkte.
Netter Muggel, dachte er, als er geschickt auf die Eiche kletterte, als wäre er ein Affe oder eine Schlange. Ich hätte wetten können, er ist ein Zauberer wie ich.


  5. Das Feuergesicht

Was der Albino namens Salazar Slytherin gesagt hatte, sollte sich bewahrheiten.
Dieses Wäldchen wurde dichter und die moorige Gegend war längst verschwunden.
Godric hoffte, auf dem richtigen Weg zu sein.
Westen, hat er gesagt. Immer gen Westen.
Es dauerte nicht lange, dann erreichte er sie: die Lichtung mit einer kleinen Hütte. Godric stutzte.
Das musste so ein Haus sein, wo Kräuterweiber zu Hause waren, denn er sah auch einen kleinen eingezäunten Kräutergarten.
Es kam Rauch aus dem Schornstein und es wurde Godric immer unwahrscheinlicher, dass Lady Georgina hier festgehalten wurde.
Plötzlich - Godric wirbelte herum - hörte er Hufgetrappel.
So schnell er konnte, kroch er unter einen Busch und legte sich auf die Lauer, das kleine Häuschen immernoch gut im Blick.
Und tatsächlich kam dort ein Reiter an das Häuschen, auf einem schwarzem Pferd. Auch er war ganz in Schwarz gekleidet. Er trug eine Augenbinde über der linken Augenhöhle, woraus Godric schloss, dass er nur noch das Rechte besaß.
Die schwarzen Haare, des Reiters waren schon leicht angegraut. Als er von seinem Pferd glitt, sah Godric eine alte Rüstung unter seinem schwarzem Umhang glänzen.
Godric hielt sich den Mund zu, aus Angst erleichtert aufzuatmen. Das musste der Raubritter sein ...!
"Na endlich!", krächzte es auf einmal aus dem kleinen Haus.
Die Tür wurde aufgestoßen und eine Frau stürmte auf den Mann zu.
Dieser schloss die Frau in die Arme und sie küsste ihn voller Inbrunst.
Godric verzog vor Ekel das Gesicht. Ihgitt!, dachte er.
Nicht nur, dass er Küssereien im Allgemeinen schon verabscheute...
Nicht nur, dass der Raubritter schon ein älterer Mann war...
Die Frau, die ihn küsste, sah mindestens um hundert Jahre älter aus! Krauses, ungebändigtes Haar, klapperdürr und gelbe Zähne waren die Dinge, die Godric am meisten ins Auge fielen. Und ihr Schädel zeichnete sich unter ihrer dünnen, fleckigen Haut ab.
Trotzdessen, flüsterten sich die beiden peinliche Zärtlichkeiten zu. Ihr Beobachter fiel langsam vom Glauben ab.
Doch dann fragte der Reiter: "Wo ist sie? Schreit das Vögelchen immernoch nach seinem Lord?"
"Sie schläft. Sie hat so sehr vor sich hingeflennt, dass ich schon befürchten musste, sie würde auslaufen und ihr Junges würde sterben.", sprach die alte Vettel.
"Dummes Weib!", gab er von sich, setzte die Alte unsanft auf dem Boden ab und ging in die Hütte. "Fangen wir an... je früher wir ihr den Bauch aufschlitzen, desto schneller sind wir wieder jung."
Godric lag da. Junges? Bauch aufschlitzen? Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter ihm erzählte, wie die Frauen ihre Babys bekamen. Sie saßen bis zu einem gewissen Zeitpunkt in den Bäuchen ihrer Mütter, bis sie groß genug waren, um draußen an der frischen Luft zu überleben.
Lady Georgina war schwanger. Er konnte nichts anderes aus den Worten des Reiters schließen.
Angefiebert überlegte Godric, wie er ihr helfen konnte. Er hatte kein Schwert bei sich, nur das Messer, welches ihm Lord Dagomar zum Geburtstag geschenkt hatte. Und wenn er jetzt den Rückweg angehen würde, um Hilfe zu holen - so hatte man es ihm aufgetragen, dann würde es zu spät sein.
"Nein!!!", schrie plötzlich jemand. Godric stockte. Lady Georgina hatte geschrien. Er hörte ihr Weinen, ihr Flehen und er konnte nichts tun!
Er sprang auf! Er musste etwas tun! Er musste dazwischen gehen!
So rannte er auf das Häuschen zu, knallte mit all seiner Kraft die Tür auf und sah mit dem wildestem Blick, der ihm gelang, um sich.
"HALT! KEINEN SCHRITT WEITER!"

Stille im Raum. Da standen der Raubritter und seine alte Vettel. Er hatte das Messer bereits in der Hand, mit dem er den Bauch der Lady hatte aufschlitzen wollen. Und auf einem Stuhl, weit weg von der brennenden Feuerstelle, saß sie, Lady Georgina. Godric stutzte. Sie war nicht gefesselt und rührte sich nicht?
Doch an ihren Augen sah Godric, dass sie Angst hatte. Vielleicht war sie vor Schreck gelehmt?
Und trotzdem, da war doch was faul, dachte er.
"Ungeladener Besuch ...?", fragte der Raubritter belustigt.
"Lasst die Lady Georgina frei!", knurrte Godric. Dieser Mann war ihm zu überheblich, für seinen Geschmack.
"Aber natürlich, mein Junge ... na komm, nimm sie an der Hand und du kannst mit ihr nach Hause, nach Catmole gehen", heuchelte er und grinste.
"Halt mich nicht zum Narren, du elender Schuft!", rief Godric, doch er wusste, dass er sich ziemlich dämlich aufführte.
"Vielleicht solltest du dich lieber setzen ...", sagte der Raubritter dann.
Godric hörte, dass ein Stuhl quietschend gescharrt wurde. Aber die alte Vettel war doch neben ihm?
Plötzlich spührte er einen stechenden Schmerz in den Kniekehlen und er saß - auf einem Stuhl, der wie aus dem Nichts hinterücks auf ihn zugeschossen war. Ohne jegliche Hilfsmittel.
Und rühren konnte er sich auch nicht mehr. Nichts! Es ging nicht! Er war wie gelähmt.
Was ging da vor? Sollte die Geschichte wahr sein und der Raubritter besaß tatsächlich magische Kräfe? Wenn die Legende wirklich wahr sein sollte, dann hatte Godric verdammt schlechte Karten.
"Was seid Ihr ...?!", fragte Godric wütend, seine Angst überdeckend.
Die Vettel und der Raubritter lachten und Lady Georgina sah ihn mitleidig und verzweifelt an.
"Da ihr beide es sowieso nicht mehr herausposaunen könnt ...
Ich bin Lord Baldur Baubor ... Mir gehörte das Gut Catmole vor Lord Lewis, bevor ich mich ..." Er grinste.
"... Ihr Muggel könnt es natürlich nicht wissen. Aber da, wo ich herstamme, werde ich auch Baldur mit dem bösem Blick genannt."
Deswegen die Spiegel, dachte Godric und startete immer wieder den Versuch, sich zu bewegen. Ein Zauberer mit dem Bösen Blick, das war das Geheimnis des Raubritters mit den magischen Kräften?
Baldur lachte. "Genau richtig... deswegen die Spiegel."
Godric schluckte. "Wie...?"
"Ein kleiner Bonus, wenn man sich auf alte schwarze Künste versteht. Der Kopf des Gegenübers ist wie ein offenes Buch. Mit dem bösem Blick kann man eine Menge anstellen."
Lord Baldur sah die Zweifel in Godrics wütendem Gesicht und grinste selbstgefällig. Langsam und genüsslich nahm er die Augenbinde über seiner linken, vermeintlich lehren Höhle ab.
Es sah einfach nur hässlich aus, was da zum Vorschein kam. Dieses aufgequollene Auge, dessen Iris weiß war, und dessen Pupille zu einem Schlitz geformt, als sei es das entstellte Auge eines Tieres, sah direkt auf Godric.
Godric spürte den Blick, spürte, dass dieser Mann durch ihn hindurchsehen konnte. Oder noch schlimmer ...
Ein stechender Schmerz traf ihn in der Brust und Godric schrie auf. Es war, als würde sein Herz zerquetscht werden und er konnte sich nicht bewegen oder winden. Er war dem Raubritter gnadenlos ausgeliefert.
 
Der Schrei des Jungen drang bis unter die Erde und derjenige, der ihn hörte, sah auf.
Er hatte ihn schon eine ganze Weile beobachtet, diesen Jungen.
Offensichtlich steckte er in Schwierigkeiten.
Bisher hatte er ihm niemals geholfen und er kam auch sehr gut alleine durch die Welt, ohne die Macht, die er noch bekommen könnte.
Aber Nain hätte gewollt, dass du ihm hilfst, sagte eine wiedersprüchliche Stimme in seinem Kopf. Es war dieselbe, die er schon mehrmals ignoriert hatte - schon vor Nain.
Und heute ... ?
Er schloss die Augen und wusste sofort, was los war. Baldur, ein Gesicht, das er nur zu gut kannte, hatte ihn in die Zange genommen mit dem bösem Blick, wofür er bei ihm einst seine Seele verkauft hatte.
Er schüttelte den Kopf. Diese schwarzen Magier, die noch die ganz alten Künste gebrauchten, waren eher blutig, als listig.
"Basilius?!", rief er.
"Ich bin hier", kam die Antwort aus dem steinigem Gewölbe, das ab und zu mit ein paar Stichflammen erhellt wurde. Für einen Moment wurde ein Teil der Gestalt des genannten Basilius sichtbar.
"Sorge dafür, dass dieser Bauernsohn endlich lernt, seine Kräfte zu gebrauchen, sobald er wieder auf dem Gutshof ist."
"Ihr meint das Halbblut, das von euch ..."
"HÜTE DEINE ZUNGE!!!", grollte es und alle vorhanden Flammen erhellten für einen kurzen Moment das Geschehen. 
Ein peinliches Schweigen entstand in der Hitze dieses Untergrundes.
"Nicht so laut!"
"Pardon", entschuldigte Basilius sich.
Als er wieder alleine war, wandte er sich wieder der Gefahr zu, die den vermeintlichen Bauernsohn bedrohte.

Oben in der Hütte war Godric immernoch auf dem Stuhl, wandt sich schmerzhaft auf diesem vor Schmerz und konnte nicht fort, als würde eine unsichtbare Riesenhand mit scharfen Krallen immer fester zudrücken.
"Lasst den Jungen zufrieden!", rief Lady Georgina. "Bitte!"
Baldur grinste und augenblicklich hörten Godrics Schmerzen auf.
"Du gibst dich freiwillig hin, meine schöne Georgina?" fragte Baldur und nahm ihre Hand.
Ihre Augen drückten leichten Trotz aus, als er ihr Kinn streichelte, aber ihr Blick war vernebelt durch Tränen.
Sie hatte Angst zu bejahen, aber auch Angst zu verneinen. Zwischen was sollte sie sich entscheiden? Ihrem Leben und dem des Kindes oder Godric´s?
Godric erfuhr ihre Antwort nicht, aber die alte Vettel tauschte einen Blick mit Baldur.
Die Alte begann etwas vorzubereiten. Sie holte bunte Fläschchen und Gläser hervor, worin sich undeutbare Flüssigkeiten befanden. Ob dies ihre Zauberutensilien waren?
Auf einmal bemerkte Godric, dass er sich wieder bewegen konnte. Offensichtlich hatte man angenommen, dass dieser Bann halten würde, denn man schenkte ihm keine Aufmerksamkeit mehr.
Er sah sich um. Es musste doch irgendwo etwas geben, was er als Waffe benutzen konnte! Das war schließlich das Zuhause eines Raubritters oder nicht?!
Aber er musste mitansehen, wie Baldur grinsend mit dem Dolch vor Lady Georginas Augen spielte.
"Gleich, meine Teure. Dann wirst du von deiner quälenden Warterei erlöst."
Godrics Innerstes schüttelte sich und sein Blick glitt zur brennenden Feuerstelle. Feuer ...
Er grübelte. Ob er vielleicht eine Fackel als Waffe entzünden konnte? Aber was konnte er benutzen? Den Stuhl auseinanderzunehmen, dazu hatte er nicht genug Kraft und es würde zu laut und zu lange dauern.
Auf einmal knackte etwas in den Flammen und als hätte es ein Echo gehabt, holte das Feuer sämtliche Aufmerksamkeit ein.
Godric - und auch der Raubritter und die Vettel - sahen verstört auf die Flammen, in dem sich etwas bildete wie ... war das ein Augenpaar!?
Godric stockte. Irgendwas hatte sie die ganze Zeit von den Flammen aus beobachtet!
Das Gesicht in den Flammen wurde deutlicher, auch wenn es noch immer unruhig dahinwaberte.
"BALDUR!" Die Stimme, die die Hütte erbeben ließ, ließ den Raubritter vor Schreck den Dolch fallen lassen. Sie kam von dem Feuergesicht.
"Hast du nicht erkannt, wen du heute in deinem bescheidenen Haus zu Gast hast?!", hallte es aus dem Feuer.
Baldur wandte den Blick von der Feuerstelle langsam zu Godric, von Godric zur Feuerstelle und wieder zurück. "ER?! Er ist es?! Aber mein Fürst, er kann doch gar..."
"Das lässt sich berichtigen, wie du weißt. Gib auf und gib ihm seinen Willen. Gib die Lady frei!"
Der Raubritter ging ein paar Schritte vor, fiel zitternd vor dem Feuer auf die Knie. "Aber mein Fürst! Wie sollen ich und meine Frau..."
"Warum seid ihr nicht einfach zu mir gekommen?!"
Schweigen erfüllte den Raum, bis Baldur schließlich aufstand und unsanft Lady Georginas Stuhl umkippte. Die Lady fiel zu Boden. Der Schrecken saß auch ihr tief in den Gliedern.
Godric, der die Situation schnellstmöglich ohne nachzudenken erkannte, eilte zu ihr und half ihr auf.
Hoffentlich ist dem Kind nichts passiert, dachte er und stellte sich schützend vor sie. Er blickte dabei abwechselnd vom Feuer, zum Raubritter.
"Ich brauch dich nicht mehr, Lady Georgina von Catmole!", knurrte Baldur schließlich, mit grimmigen Bedauern. Er war eindeutig in seiner Ehre verletzt.
"Aber lass dir eins gesagt sein. Dein Kind soll von dem Tag an verflucht sein, an dem es..."
"ICH WARNE DICH, Baldur!", schnitt ihm das Feuergesicht das Wort ab. "UND DU, Godric! Sieh zu, dass du mit der Lady verschwindest, bevor ich es mir anders überlege!"
Godric ließ sich das nicht zwei mal sagen, blickte gar nicht erst in die blendenden Flammen, sondern zog Lady Georgina mit sich aus der Hütte.
Noch während er mit ihr an die frische Luft geriet, er die erstbeste Gelegenheit ergriff und die Zügel des schwarzen Hengstes des Raubrittes erfasste, war klar, dass er nun sehr viele Fragen hatte. Der Hengst wiederstrebte sich stark seinem Ziehen und Zerren. Aber letztendlich unterwarf er sich doch. Godric und Lady Georgina saßen auf. Und wie Godric es wollte, ritt er  mit ihr im Galopp den Weg zurück nach Catmole.
Dieses Gesicht im Feuer... Hatte es von ihm gesprochen? Und woher kannte es seinen Namen?
War es... der Teufel selbst?
Lady Georgina schwieg den Rest des Rittes über. Sie wusste, dass Godric tief in Gedanken war und dass diese Rettungsaktion für einen jungen Pagen, der gerade mal ein Jahr in Ausbildung war, kein Zuckerschlecken gewesen sein musste.
'Er', dachte Godric. 'Er' selber sei es, hatte Baldur mit dem bösem Blick gesagt. Und was meinte dieser, konnte Godric selbst nicht tun?


 Fortsetzung folgt ...

 

 

 



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